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„Isak und die Labyrinthe der alten Festung“

Isaks Blick fiel auf das geschlossene Hoftor. Der Junge erinnerte sich daran, wie erstaunt er in der Nacht gewesen war, als er feststellte, dass das hohe Tor offen war. Er hatte sich sogar ein wenig gefreut, dass er nicht über das Tor klettern musste. Jetzt aber wurde ihm klar, dass Zarah es absichtlich offen gelassen hatte, damit sie leicht den Hof verlassen und ebenso seelenruhig in den Hof zurückkehren könne. Von dem Treffen zurückgekommen, hatte die junge Frau das Eisentor wieder zugesperrt und hatte sich dann mir nichts dir nichts wieder schlafen gelegt. Als er nach Zarah Ausschau hielt und sie nicht fand, trank Isak sein Glas frisch gemolkene Milch aus und erkundigte sich: „Wo ist denn unsere Zarah?“

Isak gab sich Mühe, einen ruhigen, fast gleichgültigen Ton anzuschlagen. Aber aus welchem Grund auch immer, er war doch aufgeregt, und als Isak den Namen der jungen Magd nannte, zitterte seine Stimme.
„Sie hat zu tun. Füttert die Hühner. Stör sie nicht dabei“, antwortete die Mutter, die den kleinen Bruder auf dem Arm hatte und beiseite trat, um ihn zu stillen.

„Du kannst deine Schuhe doch selber putzen!“, rief Papa aus, ohne seinen Blick von den mit blauer Tinte von oben bis unten beschrifteten Dokumenten zu heben, die auf dem Tisch und auf Vaters Knien lagen.
„Ja, das Gotteshaus darf man nicht mit dreckigen Schuhen betreten“, erklärte der Großvater feierlich und schlürfte einen großen Schluck frisch aufgebrühten Tee.

„Was willst du denn von ihr?“, fragte die Großmutter neugierig. In diesem Moment stolzierte ein einsames, junges Huhn mit einem knallroten Schopf und schwarz-weiß gewürfeltem Gefieder über den Hof. Großmutter warf ihm eine Handvoll Brotkrümel zu und bemerkte, ohne die Antwort des Enkels abzuwarten: „Ein schönes Huhn! Das schönste von allen! Deshalb mögen die anderen Hühner es nicht.“

Nur „das zweite Kind des Hauses“ sagte fast nichts. Es drückte seine Wange an die warme Brust der Mutter und schluckte die Tropfen der Muttermilch hinunter. Von Zeit zu Zeit riss sich der Säugling von seiner Lieblingsbeschäftigung los, um Luft zu holen, und stürzte sich dann wieder mit Worten, die wie „Njam, njam“ klangen, gierig auf die Milchquelle, nicht ohne mit seiner kirschgroßen Faust drohend durch die Luft zu fahren.

Isak zuckte ein wenig von den vorwurfsvollen Worten der Erwachsenen zusammen, die auf ihn niederprasselten, und beneidete beim Anblick des kleinen Bruders „das zweite Kind des Hauses“ ein wenig. – Der kann machen, was er will: schreien wie ein Berserker, unmanierlich essen, die Windeln und Mutters Kleider beschmutzen, alles wird ihm verziehen!

Zum Glück dauerte das Gefühl des Neides nur kurz an. – Denn andererseits, – dachte der sechsjährige Junge, – ein Säugling zu sein, ist vielleicht auch nicht gerade die glücklichste Zeit in einem Kinderleben! Ich erinnere mich noch nicht einmal daran. Vielleicht erinnert man sich deshalb nicht daran, weil es gar nichts Interessantes daran gibt?

Der Vater hatte aufgehört, seine voll geschriebenen Papiere zu studieren, und maß seinen Sohn mit einem Blick vom Kopf bis zur Brust. Die Beine des Jungen waren unter dem Tisch, deshalb blieben die zitternden Knie dem strengen Auge des Vaters verborgen. Isak spürte, wie seine Stirn heiß wurde und rot anlief. – Was sollte er denn antworten? Liebe Eltern, ich wollte nur wissen, ob Zarah von ihrem nächtlichen Treffen mit dem Lehrer an der Quelle zurückgekehrt ist! Und ich weiß davon, weil ich selbst die halbe Nacht nicht in meinem Bett zugebracht habe, sondern auf der Straße zur Quelle „Erek achpjur“. Ich entschuldige mich sehr, dass ich wieder, ohne zu fragen, aus dem Haus weggelaufen bin.

Großmutter griff nach dem Nachbarstuhl, auf dem niemand saß. Ihr aus den Federn eines afrikanischen Vogels gemachter Fächer ruhte sich dort aus. Die unwahrscheinlich langen Federn waren grün gefärbt und erinnerten eher an den Thronwedel eines Schahs als an den Fächer für einen Ball. Der Vogel, den man für Großmutters schon fast „höfischen Fächer“ hatte rupfen müssen, hieß Strauß. Das war ein ganz besonderer Vogel! Von Akop wusste Isak ein paar Einzelheiten aus dem Leben dieses sagenhaften Vogels; sein älterer Freund hatte sie seinerseits in der Schule von dem Lehrer Sarkissjan gehört. Nach dieser Schulstunde hatte Akop beschlossen, sobald er erwachsen wäre, nach Afrika zu reisen und, koste es, was es wolle, den Vogel „Strauß“ zu finden, dessen Name in Wirklichkeit „Kamelvogel“ bedeutete.
„Dort wimmelt es von den verschiedensten Tieren! Viele von ihnen leben nur in Afrika, weil da immer gutes Wetter ist. Wenn ich da bin, suche ich mir als erstes einen Strauß und bringe ihm das Fliegen bei. Kannst du dir vorstellen, auf einem Strauß wie auf einem einhöckerigen Kamel zu reiten? Und wenn man ihm dann das Fliegen beibringt, kann man mit ihm auch noch fliegen. Voraussetzung ist nur, dass der Strauss das wirklich will. Man muss ihn nur richtig füttern, wie die anderen Vögel auch, mit Würmern. Dann werden seine Flügel stark.“
„Und was frisst er jetzt?“, erkundigte sich Isak.

„Alles mögliche Zeug. Alles, was auf dem Weg liegt. Wenn er Nägel findet, steckt er sie in den Mund. Wenn er den Absatz eines Schuhs findet, steckt er ihn ebenfalls in den Mund. Deshalb kann er seine Flügel nicht aufschwingen und fliegen. Wie soll man denn fliegen können, wenn man den Bauch mit Unrat voll hat? Streng genommen ist der Strauß nicht dumm. Wenn sich eine Gefahr nähert, vergräbt er seinen Kopf in der Erde. So dass über der Erde nur seine dürren Beine zu sehen sind. Was hat es für einen Sinn, in der Hitze herumzurennen, wenn man seine Kräfte schonen und sich einfach verstecken kann? Und zwar gut verstecken! Stell dir vor, da kommt ein hungriger Löwe, und der leckere Strauß ist weg, wie vom Erdboden verschluckt! Das Raubtier brüllt, weil der Leckerbissen verschwunden ist, und wundert sich, wie dieser Baum so schnell vor seiner Nase hat hochschießen können. Und es denkt: ‚Gestern bin ich auf der Jagd nach den Antilopen hier vorbeigerast. Da war noch nichts aus der Erde gesprossen. Und heute steht an dieser Stelle schon ein Bäumchen! Wie das?’ Der dumme blutrünstige Löwe brüllt und brüllt, und wirft vor Wut mit seiner Tatze den Sand in die Luft. Schließlich zieht er ab, mit leeren Händen!“
Wie er jetzt so am Tisch saß, verstand Isak alle Vorzüge dieses afrikanischen Vogels im Vergleich zu den winzigen Vorteilen im Leben eines Menschenkindes. Weil er in diesen Minuten vor allem den Kopf in den Sand stecken wollte. Stattdessen stellte er sich tapfer dem durchdringenden Blick des Vaters, dem weiträumigen Wedeln des Fächers der Großmutter und den von allen vier Seiten auf ihn niedergehenden Vorwürfen. Und das alles nur wegen der einfachen Frage, wo die Magd war!

Der Junge druckste herum: „Ich habe das einfach nur so gefragt.“

©2009 Marina Loose