Als das kleine Mädchen Gaja dem Weihnachtsmann das erste Mal begegnete, war sie drei Jahre alt. In diesem Dezember fiel sehr viel Schnee, so dass die verschneiten Straßen für Menschen und Autos schwer passierbar waren. Und in diesem schneereichen Winter kamen ungewöhnlich viele Kinderchen zur Welt.
Zu seinem Fest hatte der Weihnachtsmann alle Hände voll zu tun. So viel, dass er es nicht schaffte alle Mädchen und Jungen rechtzeitig zu besuchen. Den artigen Kindern Geschenke zu übergeben und die Unartigen zu tadeln. In solchen Notfällen schickte er dann für jedes Land seine Stellvertreter. Diese guten Helfer konnten sich mit dem Weihnachtsmann in ihrer Landessprache und in der Allgemeinen weihnachtsmännischen Sprache unterhalten. Ja, ja! Solch eine Sprache gibt es auch! Wenn der Weihnachtsmann „Hoh! Hoh! Hoh!“ ruft, bedeutet das nichts anderes, als „Guten Tag, meine Lieben!“
Es gibt auch Kinder, welche in zwei Sprachen sprechen können. Ja, ja! So wie das kleine Mädchen Gaja und ihre fünfjährige Schwester Lucie. Es kam so, weil der Vater und die Mutter der Geschwister aus verschiedenen Ländern kamen. Unsere Erde ist bekanntlich groß und hat viele Länder mit unterschiedlichen Sprachen!
„Habt ihr das Klingeln und das Klopfen an der Tür nicht gehört? Das ist bestimmt der Weihnachtsmann“, sagte die Mutti schmunzelnd, „Ich habe seine schweren Schritte im Treppenflur gehört. Wollt ihr ihm nicht die Tür aufmachen?“
Lucie und Gaja standen im Flur, wie erstarrt. Vielleicht war den beiden Schwesterchen angst und bange? Oder sie wurden durch das kräftige Klopfen an der Tür verzaubert?
Noch vor wenigen Tagen, als Lucie ihr fünftes Geburtstagsfest feierte, klingelte nachmittags oft die Türklingel. Laut rufend: „Unsere Gäste kommen“, rannten die beiden Schwester zusammen zur Tür. Um die eingeladenen Jungen und Mädchen herein zu lassen. Dem kleinen Mädchen mit schulterlangen braunen Löckchen machte es nichts aus, dass die Gäste ganze zwei Jahre älter und einen Kopf größer waren, als sie. Gaja war beliebt, sowohl bei den Kleinen, als auch bei den Großen. Zärtlich nannte man sie Biene Gaja. Vielleicht, weil sie so fröhlich und liebenswert war? Man hörte nicht selten, wie sie ihre selbst ausgedachten Lieder trällerte und versuchte dabei zu tanzen. Ihre Schritte, Drehungen und kleine Sprünge waren leicht, wie bei einer Biene.
Auf der Geburtstagsfeier wurde viel getanzt, lecker gegessen, laut „Topf schlagen“ gespielt und jede Menge getrunken. Es gab die beliebtesten Getränke für die jungen Gäste: süßen Kakao und in die Nase sprudelnde Limonade. Und Obstsäfte gab es in verschiedensten Farben. Aus diesem Grund bildete sich oft vor der Toilette eine Schlange. Eine hüpfende und lachende Schlange aus Mädchen und Knaben. Und da passierte Biene Gaja völlig unerwartet ein kleiner Unfall. Eine klitzekleine Panne, nichts der Rede wert – ein „nasse Hosen-Unfall“. Niemand von den Geburtstagsgästen bemerkte etwas. Man konnte diesen „Unfall“ schnell und leicht vergessen, aber nein!
Nun klopfte es wieder und ziemlich laut an der Tür.
„Kinder, habt ihr das Klingeln und das Klopfen an der Tür nicht gehört?“, fragte Vati lächelnd, „Das ist der Weihnachtsmann! Und bestimmt kein grauer Wolf, der hinter zwei Geißlein her ist. Wollt ihr dem guten Alten die Tür nicht aufmachen? Ihn herein bitten? Oder sollte ich das tun?“
Die beiden Schwesterchen sahen so aus, als hätten sie vergessen zu atmen. Schweigend nickten sie mit ihren Köpfen.
Die Tür ging auf und ein stattlicher Weihnachtsmann im roten Mantel erschien. Seine Kapuze war mit einem weißen Pelz besetzt, seine Augen und sein weißer Bart schimmerten im Licht der Flurlampe. Als erstes erkundigte er sich mit einer tiefen, feierlichen Stimme:
„Hoh! Hoh! Hoh! Wohnen hier die zwei kleinen Mädchen? Lucie und Gaja?“
Die Kinder senkten ihre Köpfchen und flüsterten halblaut:
„Jah“
„Du bist doch Lucie, die Ältere, oder?“, wollte er von der älteren Schwester wissen.
„Jah“, sagte sie, ohne zu atmen und sich vom Fleck zu rühren.
„Na, Lucie, warst du das ganze Jahr artig?“.
„Ja!“, sagte sie mit leiser und leicht zitternder Stimme. Ihr Blick wanderte auf seinen schweren Sack, welcher auf dem Fußboden stand. „Ich habe für dich ein Gedicht gelernt“, fügte sie schon etwas mutiger hinzu.
Ihr Gedicht über den lieben Weinachtmann klang wunderschön. Sie stotterte kein einziges Mal. Fast kein einziges Mal!
„Das hast du aber fein gemacht!“, rief der Weihnachtmann lobend.
Als der Weinachtmann sich an Gaja wandte, stand das kleine Mädchen regungslos.
„Und du Kleine, warst du das ganze Jahr artig?“
Gaja senkte ihren Kopf noch tiefer. So das sie ihr Gesicht hinter ihren langen Löckchen verstecken konnte. Zu sehen war nur die kleine, blasse Nase. Dann sammelte sie ihre ganze innere Kraft und sagte ehrlich.
„Ich habe auf der Geburtstagsfeier meiner Schwester eingepullert.“
Lang gezogen sprach sie jedes einzelne Wort. Sie sagte es in der Sprache ihrer Mutter, die aus einem fernen Land nach Deutschland kam.
Der gute Stellvertreter beherrschte aber nur die Allgemeine weihnachtsmännische Sprache und die Deutsche. Aus diesem Grund konnte der bärtige Helfer im roten Mantel nichts von dem verstehen, was das kleine Mädchen jetzt zu ihm sagte. Gaja wandte ihren Blick zur Rute. Dann brach sie in Tränen aus. Vielleicht aus Angst, dass sie jetzt diese hässliche Rute zu spüren bekam?
Lucies Augen aber wurden zuerst riesig groß. – Auweia! So was erzählt man doch nicht! – dachte sie. In dem Augenblick aber, als der Weihnachtsmann ihr Schwesterchen zu streicheln begann, blitzten Lucies schlaue Augen. Und als der stattliche Bärtige rief „Das hast du aber fein gemacht!“ und Gaja einen Kuss auf den Kopf gab, wurde es der älteren Schwester klar: – Das ist kein echter Weihnachtsmann! Sondern nur sein Stellvertreter. Er ist nicht aller Sprachen mächtig und verstand nicht, was meine kleine Schwester sagte!
Nicht im Entferntesten dachte der Bärtige im roten Mantel daran, dass solch ein nettes Kindlein etwas Böses oder Unartiges anstellen könnte! Und dass sie ihm kein Gedicht aufsagte, war auch nicht weiter schlimm! Sie war ja noch klein. Und er hatte heute genug solche oder ähnliche Gedichte gehört. Und so sprach der liebe Weihnachtsmann einfach seine Lieblingsworte zum verängstigten Kind: „Das hast du aber fein gemacht!“
Dann überreichte er den beiden Schwestern Geschenke, wünschte allen ein frohes und gesegnetes Fest und ging seines Weges. Das ältere Mädchen lachte herzhaft. Sogleich lief es schnell zum Fenster.
„Gucke, mal, Gaja! Da! Da im Schnee sind noch die Spuren vom Weihnachtsmann zu sehen!“
Der Kleinen standen noch dicke Tränen in den Augen. Gaja konnte kaum etwas auf der weißen Schneedecke erkennen. Aber langsam verstand sie, dass der Weihnachtsmann ihr alles verziehen hatte. Verwundert schaute Biene Gaja auf ihre große Schwester: verwundert und fröhlich. Sie konnte noch nicht ganz begreifen, was eben passiert war. Anstatt der Rute, gab ihr der Weihnachtsmann Geschenke und lobte, dass sie es fein gemacht hatte. Und es gab sogar einen Kuss auf die Löckchen!
„Mich hat der Weihnachtsmann geküsst! Mich hat der Weihnachtsmann geküsst!“
Sie drehte sich im Kreis um und sang ihr neues Liedchen „Mich hat der Weihnachtsmann geküsst!“ Tanzend und summend in ihrem Glockenröckchen sah sie wie ein Bienchen aus!
Es schneite noch lange an diesem Tag, so dass die tiefen Spuren des Weihnachtsmannes immer flacher wurden. Und bald ganz und gar verschwanden.
Es fiel in diesem Winter sehr viel Schnee, zur Freude aller Kinder. Und es gab in dieser Jahreszeit viele Neugeborene … zur Freude ihrer Eltern, ihrer Großeltern, des Weihnachtsmannes und seiner fleißigen Stellvertreter.
©2011 Marina Loose