Meine Bücher

"Rabe Pirat und seine Freunde"

5. Kapitel, in dem erzählt wird, wie der Frischling dem Bachlauf nachlief

Die Blütezeit der weißen Orchideen war angebrochen. Über diesen Blumen schwebten weiße Schmetterlinge wie kleine Wölkchen. Ein Frischling – Wildschweinchen Fred – lief solch einer Schmetterlingswolke nach. Einige Male hopste er hoch, um neben dem Schmetterling flattern zu können. Es flatterten aber nur seine Plüschöhrchen lustig in der Luft. Trotzdem war der Frischling mit sich zufrieden: „Freds Ohren flattern! Fein flattern!“

Der kleine Fred war allein im Wald unterwegs, obwohl ihm das strengstens verboten war. Am Bach angekommen, trank er durstig Wasser. Dabei blickte er ununterbrochen auf den Wasserlauf, und das brachte den ungehorsamen Frischling auf einen riskanten Gedanken: ‚Fred will wissen, ob der Bach ein Ende hat?’ Gedacht, getan! Der Ungehorsame lief dem Bachlauf abwärts nach.
Bald begegnete er einem Waschbären, der gerade sein wuscheliges Fell putzte. Der Waschbär lächelte dem Frischling zu. Doch es war kein freundliches, eher ein gespielt freundliches Lächeln. Mit genau so gespielt freundlicher Stimme erkundigte sich der Waschbär wie nebenbei: „So klein – erst gestern laufen gelernt – und schon ohne Familie unterwegs! Bist du etwa von Zuhause ausgerissen? Ho! Da wirst du eine Tracht Prügel kriegen“, lachte der Waschbär. Und schon borstig fügte er hinzu: „Wenn du möchtest, bringe ich dich zurück? Doch dafür möchte ich den mir zustehenden Finderlohn bekommen.“
„Finderlohn? Das versteht Fred nicht?“, grunzte der Frischling.
„Finderlohn… na ja! Ich bestehe nicht darauf, nein, nein! Aber ich würde gern für dich Früchte, Beeren, Nüsse und so weiter und so fort bekommen“, erklärte der Waschbär wieder gespielt freundlich. Doch was er sagte, klang ziemlich dreist. Deshalb antwortete der Frischling ihm forsch: „Fred gibt keinen Finderlohn! Fred findet allein seine Familie!“
Der Frischling lief weiter dem Bachlauf nach, bis vor ihm ein Mufflonjunge mit hübschen runden Hörnern und traurigen Augen auftauchte. Merkwürdig murmelte der Mufflonjunge vor sich hin: „Ich will nach Hause. Ich will nach Hause.“
Der Frischling grunzte mitfühlend: „Fred kann dein Zuhause nicht finden. Auch wenn du viel Finderlohn dafür versprechen würdest. Aber Fred freut sich über einen Wegbegleiter. Komm mit! Fred will wissen, ob der Bach ein Ende hat.“ Der Mufflonjunge schaute mit einem verlorenen Blick den Frischling an, er trank etwas Wasser aus dem Bach und stürzte sich hinter die hohen Stengel des Farnkrauts.
Der Frischling lief weiter und weiter. Wenn der Bach einen kleinen Sprung hinunter machte, nahm auch Fred die Stufe hopsend hinunter. Manchmal wiederholte er: „Fred ist findig. Fred findet sein Zuhause! Ohne Finderlohn zu geben!“ Es klang, als wollte er sich selbst überreden weiterzulaufen.
Als der Wald hinter dem Frischling blieb, öffnete sich ihm das Meer. Wie gefesselt schaute Fred auf das große Wasser, das bis zum Himmelrand reichte. Dann jubelnd, mit Hopsasa – Sprüngen hopste der Frischling zum Meer, ohne den schlängelnden Bach aus den Augen zu verlieren. Auf einmal verlief der Bach ganz steil nach unten, das Wasser sprang von einem Vorsprung hinunter, um sich mit einem Wasserfall ins Meer schäumend zu ergießen.
Eine Weile stand Fred mit forschenden Augen am Ufer des Meeres. „Fred hat es verstanden! Der Bach endet im Meer. Darum ist im Meer viel Wasser!“, grunzte der Frischling. Da packte ihn der Wunsch, das viele Wasser zu berühren, in ihm plantschen zu gehen. „Freds Füße sind nicht frisch! Fred will sie erfrischen!“
Der Frischling stellte sich in den Wasserfall wie unter eine Dusche. Aber der Wasserstrom war zu stark und trieb Fred ins Meer. Dort bekam der Frischling einen Schreck, als ihm das salzige Meerwasser in den Hals gekommen war. Schnell machte Fred seine Nasenlöcher zu, und dann freute er sich über die Wellen, die ihn mal ans Land zurück brachten, mal wieder ins Meer trieben. Allerdings konnte sein zartes Fell nicht allzu viel Feuchtigkeit vertragen. Deshalb musste Fred niesen und niesen. Im Spiel der Wellen wurde er auch immer schwächer. Beinahe wäre er ertrunken, wenn nicht die Möwen ihn an den Ohren und Füßen gepackt hätten. Sie zogen Fred an Land und retteten ihm sein junges Leben. Erschöpft grunzte der Frischling: „Fred dankt freundlich.“
Die lustigen Möwen fragten ihn lachend: „Du bist bestimmt aus dem Wald mit den schrägen Bewohnern?“ Der Frischling war ratlos: „Die Frage kann Fred nicht verstehen.“ Genug gelacht, fragten ihn die Möwen schon ernst: „Schaffst du es allein, dein Zuhause zu finden?“
„Fred bringt es fertig, sein Zuhause zu finden! Ohne Finderlohn zu geben!“, war Freds Antwort. Über den so selbstsicheren Frischling, der noch vor wenigen Augenblicken hilflos im Wasser zappelte, lachte der ganze Möwenschwarm: „Du kleiner dummer Fred! Wie willst du dein Zuhause finden?“
„Fred braucht nur fix den Bachlauf aufwärts zu laufen. Fred ist findig.“
Und siehe da! Der findige Frischling namens Fred rannte dem Bach aufwärts nach. Schneller wie der Wind erreichte er sein Zuhause. Seine Mama Bache grunzte streng: „Wo warst du, Fred? Wir haben dich schon überall gesucht!“ Schniefend grunzte der Frischling: „Fred war duschen, im Wasserfall am Meer!“ Die Mama Bache wollte ihrem Frischling keinen Glauben schenken. „Du spinnst wohl! Das ist doch ein weiter Weg.“ Nachdem Fred einige Male kräftig nieste, grunzte er stolz von seinem Tagesausflug: „Das Meer ist groß. Fred sah viel Wasser.“
Rügend gab Mama Bache ihrem Fred einen Klaps, weil er sich unerlaubt von der Familie entfernt hatte. Danach streichelte die Mama die kleinen Plüschöhrchen ihres Lieblingsfrischlings.
Da rief die Eule Leonore von ihrem Baumwipfel kauend: „Im Osten oder im Westen, uh, im eigenen Nest ist es am besten!“
„Bitte Ruhe da oben! Alle meine Frischlinge schlafen!“, grunzte die Mama.