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"Inselgeschichten: Die Stürmer des Königsfelsens"

Wie eine weiße Mauer erhob sich der Königsfelsen über dem Meer. Sobald die Sonne hinter den Wolken hervorkam und auf ihn schien, schimmerte seine glatte Oberfläche wie eine kostbare Perle. An seinem Fuße siedelte sich eines Tages eine weiße Schnecke an. Sie ging gleich spazieren. Denn sie konnte es kaum erwarten, ihre Nachbarn kennenzulernen und Freundschaft mit ihnen zu schließen.

Der erste, den sie traf, war ein Frosch. Doch er hatte seine blauen Augen nur für die rote Libelle. „Quak, quakissimo, liebe Libelle! Du gefällst mir, vor allem deine roten Strümpfe und roten Handschuhe“, quakte er und hüpfte hinter der flatternden Libelle her.

Der nächste, den die Schnecke traf, war ein grüner Grashüpfer. Sie wünschte ihm: „Guten Morgen, Grashüpfer!“ Doch er sagte ihr mit seiner piepsigen Stimme: „Du bist so weiß und so blass! Bist du etwa krank? Wenn du krank bist, dann verstecke dich in deinem Häuschen. Sonst steckst du mich an. Ich habe morgen etwas Wichtiges vor und kann keine Krankheiten gebrauchen!“ Die Schnecke erwiderte: „Ich bin einfach weiß, so weiß wie der Königsfelsen.“ „Du solltest dich mehr im Gras bewegen. Damit du grün wirst, so grün, grün, grün wie ich.“ Der Grashüpfer lachte piepsig und war fort.

Den halben Tag lang wälzte sich die Schnecke im Gras, atmete fleißig die Grasluft ein. Aber sie blieb weiß. Da buddelte sich eine braune Ameise aus der Erde heraus. Die Schnecke begrüßte sie und musste hören: „Oh, Schreck! Eine blasse, scheinbar kranke Schnecke. Stecke mich bloß nicht an! Wir haben morgen ein großes Wettrennen, ich nehme daran teil.“ Die Schnecke schüttelte ihre Fühler. „Ich bin nicht im Geringsten krank! Und von einem Wettrennen weiß ich nichts.“ „Oh, dieses Rennen findet jedes Jahr statt. Derjenige, der als erster den Gipfel des Königsfelsens erklimmt, bekommt eine goldene Krone von der Sonne überreicht“, erzählte die Ameise. Die Schnecke fragte interessiert: „Dürfen alle Tiere am Wettrennen teilnehmen?“ „Oh, ja! Alle, die keine Flügel haben, dürfen daran teilnehmen. Schnecke! Willst du etwa auch dabei sein? Ich meine, dabei sein als Zuschauerin!“ Die Ameise kicherte über ihren garstigen Scherz und buddelte sich wieder ein.

Die Schnecke seufzte tief, denn auch sie wollte gern am großen Wettrennen teilnehmen. „Aber wenn ich als Letzte auf dem Gipfel ankomme oder gar nicht ankomme, werden alle nur noch garstiger zu mir sein. Die sind ja alle bunt, und ich bin nur blass.“ Traurig verkroch sie sich in ihr weißes Schneckenhäuschen.

In der Nacht hörte die Schnecke ein merkwürdiges Gespräch zwischen der Ameise und dem Regenwurm mit an. Die beiden besprachen, wie man das Rennen gewinnen könnte: auf eine unehrliche Weise! Der Regenwurm erzählte: „Beim letzten Rennen hat der Maulwurf, äh, getrickst. Der so genannte Sieger hat einen Tunnel durch den Felsen gebuddelt, so etwas wie eine Abkürzung zum Gipfel.“ Darauf schlug die Ameise vor: „Wir sollten das auch tun: Buddeln, um zu schummeln. Oh, ich wollte sagen: Buddeln, um zu gewinnen.“ Der Regenwurm war einverstanden: „Wir fangen damit gleich jetzt an. Morgen früh stehen wir zusammen mit allen anderen am Felsen, als sei nichts gewesen. Wenn alle beginnen zu kriechen, zu laufen und zu hüpfen, sind wir nach einer Minute – husch – auf dem Gipfel. Wir sind die Sieger!“ Die Ameise meinte: „Wenn wir schon nach einer Minute auf dem Gipfel stehen, wird uns das niemand glauben!“ „Dann eben – husch, husch, husch – nach drei Minuten sind wir, äh, die Sieger!“, antwortete der Regenwurm. Gesagt, getan! Die beiden machten sich an ihre unehrenhafte Arbeit.

Als die Schnecke dieses Gespräch hörte, fragte sie sich: „Sollte ich doch am Wettrennen teilnehmen? Ich bin kein Schwächling, auch wenn ich nicht die Schnellste bin. Schwach sind die, die den Gipfel nicht ehrlich erklimmen.“

Am nächsten Morgen, kurz bevor die Sonne aufging, trafen sich alle Tiere am Königsfelsen. Der Frosch, vor Ungeduld auf der Stelle hüpfend, quakte: „Quak, quakissimo! Ich bin der Sieger! Bravissimo für mich!“ Der Igel lobte sich selbst: „Wir Igel sind schlau. Deshalb gewinnen wir Wettrennen in allen Geschichten.“ Der Regenwurm streckte seinen langen rosigen Hals hoch und brummte: „Ich bin hartnäckig, ich bin der Sieger!“ „Oh, ich bin aber die Stärkste! Ich bin die Siegerin!“, kicherte die Ameise. Als plötzlich die Schnecke mit ihrem Häuschen erschien, machten sich alle über sie lustig: „Eine langsame Schnecke auf der langen Strecke ist zum Lachen!“ „Die Kranken haben bei dem Rennen nichts zu suchen! Sie bleiben zu Hause!“ Doch die Schnecke stellte sich mutig neben die anderen Teilnehmer.



"Inselgeschichten: Die Möwen und die Fischbrötchen"

Auf dem Dach eines Hochhauses saßen morgens zwei Möwen. Sie schauten auf das Meer, wo Fischerboote unterwegs waren und auf die Promenade, wo Menschen spazieren gingen. Zu ihnen aufs Dach kam eine kleine Möwe. Sie schlug vor, zusammen etwas Fisch aus dem Meer zum Frühstück zu holen. „Ha! Ha! Ich werde doch nicht meinen Kopf ins Wasser stecken, da ich gerade mit meiner Frisur fertig bin!“, sprach die erste Möwe. Sie galt als schicke Möwe, denn sie trug knallrote Strümpfe und eine Locke auf dem Kopf.

Die zweite Möwe, die faule, war auch mit dem Vorschlag der kleinen Möwe nicht einverstanden: „Ha! Ha! Das Meer ist zu kalt. Lieber lege ich mich auf den Bauch und nehme hier ein Sonnenbad.“ Nachdem ihr Vorschlag abgelehnt wurde, staunte die kleine Möwe: „Wollt ihr heute nichts essen?“ Die schicke Möwe antwortete: „Scheinbar bist du neu hier! Unser ganzer Schwarm ist auf den Geschmack von Fischbrötchen gekommen. Es gibt hier nichts Leckeres als Brötchen mit Fisch, cremiger Sauce, einem Blatt Salat, serviert in einer weißen Serviette. Gleich macht die Fischersfrau ihren Laden auf, dann kannst du es probieren.“ Die faule Möwe bemerkte nur: „Fisch ohne Gräten und schnabelgerecht geschnitten ist genau das Richtige für mich!“ Die kleine Möwe staunte noch mehr: „Habt ihr Geld dafür?“ Über diese Frage lachten die zwei Möwen lange, bis die schicke Möwe rief: „Achtung! Es gibt das Zeichen zur Attacke! Ein Spaziergänger mit Fischbrötchen in der Hand kommt gerade aus dem Laden, den dürfen wir attackieren!“ Sogleich stürzten sich alle drei Möwen auf das Fischbrötchen. Sie schnappten dem ahnungslosen Spaziergänger sein Essen so geschickt weg, dass in seiner Hand nur eine weiße Serviette übrigblieb.

Solche Attacken machten die Möwen Tag für Tag. Mit jedem Tag wurden sie immer frecher. Zum Schluss verwandelte sich der Schwarm in eine Räuberbande, bloß mit einem Unterschied: Die richtigen Räuber jagen nach Geld, die Möwen aber nach Fischbrötchen. Wie es sich gehörte, gab es in der Bande einen Anführer, eine ältere Möwe. Von morgens bis abends, so lange der Fischladen geöffnet hatte, stand der Anführer auf seinem Beobachtungsposten oben auf einer Straßenlaterne. Er tat so, als schaue er bloß in den Himmel und zähle die Wolken. Aber in Wahrheit lauerte er auf die Spaziergänger mit den Fischbrötchen in der Hand.



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