… Robin Rabs lief flink die Gangway hinunter: „Endlich wieder an Land!“
Kai Kreks begab sich in den Laderaum, um angeblich sein Gepäck zu holen. Obwohl er gar kein Gepäck mitgenommen hatte. Als die Säcke mit Weizen ausgeladen wurden, ging in einem der schlafende Rabe auch an Land. Deshalb konnte Kai nicht sehen, wie dunkler Rauch über Kapitän Ankersons Schiff aufstieg, und wie der Anker gelichtet wurde. Das Schiff steuerte den nächsten Hafen an, um die nächste Fracht zu holen. Robin winkte mit beiden Flügeln hinterher. Als das Schiff hinter dem Horizont verschwand, blickte er auf Kai, der fest im Korn schlief. „Nicht, dass unser Dornröschen – diese schlafende Schönheit – die ganzen Ferien verschläft!“, schmunzelte Robin. Er kitzelte seinem Nachbarn den Schnabel. Kai nieste. Das Korn flog von seiner Brust fort.
Mit einem schläfrigen Blick beschaute Kai die Ozeanwellen, die schäumend zur Küste rollten. „Wo bin ich?“, fragte er. „Wir beide sind in Afrika“, antwortete Robin mit einer starken Betonung auf das Wort ‚beide’.
Kai schien diese Betonung nicht mitbekommen zu haben. „Und was mache ich hier?“, staunte er und krabbelte aus dem Sack. „Kai, wir beide wollten den afrikanischen Kindern helfen. Scheinbar leidest du durch die Seekrankheit immer noch unter Gedächtnisverlust“, vermutete der gelehrte Rabe.
Kai schüttelte sich ausgiebig aus, bis das letzte Korn aus seinem Gefieder gefallen war. Dann spuckte er sich reichlich auf den Flügel, seifte sich damit den Kopf ein. „Der hübsche Rabe hat auch in Afrika hübsch zu sein!“ Nach diesem Satz knetete Kai seine Kopffedern zur Frisur namens „Afrikabummler“. „Wie sehe ich nun aus?“, wollte er wissen.
„Rabenschick! Aber bitte versuch jetzt zu fliegen. Stoß dich beim Abflug kräftig ab“, riet Robin. Mit Genugtuung antwortete ihm Kai: „Schau nun, wie ich fliegen kann, höher als ein Adler!“ Um loszufliegen spannte er sämtliche Flugmuskeln an, auch die Wangenmuskeln. Das sah ulkig aus, als quälte sich der Rabe mit der Verstopfung auf dem Topf ab. Wieder und wieder versuchte er aufzusteigen, aber sank immer tiefer in den Sand. Es war auf gar keinen Fall der Flug eines Adlers, es war eher die Buddelei eines Baby-Straußes.
Ausgerechnet in diesem Augenblick erklang ein gefährliches Brüllen aus dem Gebüsch. „Kai! Schnell! Flieg los!“, rief Robin aus der Luft. Wie sollte aber der Rabe ‚schnell fliegen’, wo er sich nicht einmal schnell aus der Grube befreien konnte?
Schlotternd vor Angst, als das Gebrüll immer näher kam, steckte Kai seinen Kopf in den Sand. Um genug Platz in der Grube zu haben, streckte er seine Beine heraus. Gerade noch rechtzeitig! Denn ein hungriger Löwe brach aus dem Gebüsch hervor. Er warf seine prachtvolle Mähne in den Nacken, dann riss er sein Maul weit auf, als wollte er so losbrüllen: „Da bin ich! Ein Schönling von Format! Bewundert mich! Bewundert meine ganz schön scharfen Zähne!“
Mit einem Sprung war er bei Kais Beinchen angelangt, die wie zwei Grasstängel aus dem Sand ragten. Der Löwe beschnupperte sie: Was er da roch, schien ihm zu gefallen. Aus Vorfreude auf sein kleines aber feines Mittagessen leckte sich er schon sein Maul. Dann erhob er seine Klaue über der Grube, wo Kai zusammengekauert mit seinem Leben abschloss.
Im Nu erkannte Robin die bedrohliche Lage für Kai. Ohne zu zögern warf er sich auf den Schwanz des Löwen, um ihn mit aller Macht beiseite zu zerren. Doch entweder hatte Robin die Dicke des Löwenschwanzes unterschätzt oder die Stärke seines Schnabels überschätzt: Es gelang ihm nicht, den Schwanz zu fassen.
Hochnäsig schüttelte der Löwe Robin ab, der für ihn nur eine Mücke war, klein und lästig wie die meisten afrikanischen Mücken so sind.
Da schoss es dem gelehrten Raben durch den Kopf: ‚Bei so einem Kraftprotz sind nicht die Muskeln gefragt, sondern ein schlauer Plan! Ich muss den Löwen ins Wasser locken, möglichst weit weg von Kai.’ Krächzend aus voller Rabenkehle mal ins rechte, mal ins linke Ohr des Löwen, griff Robin vom Wasser aus an. Nun verstand der Löwe, dass er hier nicht mit einer Mücke zu tun hatte, sondern mit einem Vogel, der kräftige Stimmbänder und einen ebenso kräftigen Willen besaß. Mit wehender Mähne und klingenden Ohren stürzte das Raubtier dem Raben nach, geradewegs in den Ozean.
„Flieg, Kai! Der Löwe ist im Wasser!“, rief Robin. Starr vor Angst blieb Kai in der Grube, während der Löwe immer wütender wurde. Zu viel Salzwasser war ihm in sein aufgerissenes Maul geschwappt. Blind vor Wut warf er seinen mächtigen Leib in die Luft, um sich endlich diesen unentwegt krächzenden Vogel zu schnappen. So gewaltig sein Sprung auch war, konnte er den Raben nicht erwischen. Schließlich sah der Löwe ein, dass er den Kampf verloren hatte. Er suchte sich sein Mittagessen woanders.
Unterdessen bewunderte Robin von oben die afrikanische Küste mit ihrem feinen Sand, der goldig in der Sonne glitzerte und ihre schlanken Palmen, die wie aufgespannte Sonnenschirme aussahen. Und da entdeckte er Kinder, die reglos im Sand hockten. Mit ihren hängenden Köpfen sahen sie wie ein Häufchen Elend aus.
Robin warf einen Blick nach links, nach rechts und stellte fest: ‚So, so! Keine Spur von ihren Eltern.’ Eigentlich wollte er gleich bei den Kindern landen, aber überlegte es sich anders: ‚Zuerst muss ich zu Kai. Ich kann mir gut vorstellen, was er da gerade durchmacht. Selbst Schuld! Raben sollen fliegen und nicht wie Kleinkinder im Sandkasten buddeln. Auch von Freundschaftsdingen hat er keine Ahnung: Freundschaft ist ein kostbares Gut, das einmal errungen und ein Leben lang behütet sein will. Man wechselt Freunde nicht wie Frisuren – heute Robin Rabs, morgen Elster von Stibitz.’
Als Robin zurückkehrte, steckte Kai immer noch in der Grube. „Die Luft ist rein! Der Löwe ist fort!“, rief er. „Wer spricht da? Robin Rabs oder das Raubtier mit scharfen Zähnen?“ Kai tat so, als erkenne er Robins Stimme nicht, nur um sein Versteck nicht verlassen zu müssen.
„Kai! Der Löwe ließ dir viele Grüße bestellen und war fort. Bitte komm jetzt heraus!“, bat ihn Robin. „Was ist, wenn das Raubtier wiederkommt? Es ist schließlich Mittagessenzeit“, erklang es aus der Grube. „Der Löwe hatte heute seinen Fischtag. Denn er musste viele Fische schlucken, als ich ihn ins Wasser gelockt habe“, antwortete Robin. „Und wenn er mich zum Nachtisch haben möchte? Du hast doch nicht gesehen, mit was für einem Appetit er mich beschnuppert hat!“, rief der Rabe. „Kai! Sein Bauch ist jetzt kein Löwenbauch mehr, sondern ein Aquarium voller Fischen. Für Vögel, selbst für die hübschesten, ist dort kein Platz mehr!“, antwortete Robin scherzend. Die Vorstellung von einem Aquarium, vollgestopft mit Makrelen, Sardinen, Garnelen, Seeigeln, Quallen und Aalen hatte ihre volle Wirkung gezeigt, Kai kam aus seinem Versteck gekrabbelt und warf sich froh Robin an den Hals. Bloß die Freude war von kurzer Dauer. Aus dem Gebüsch kam wieder ein Tier angerannt, dieses Mal ein gestreiftes Tier. „Jetzt ist ein Tiger da! Rette sich, wer kann!“, schrie Kai außer sich vor Schreck und tauchte mit dem Kopf nach unten in seine Grube wieder ab.
©2023 Marina Loose